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© Phil Dera
Podcast – „Wissen unplugged“: Über „Liebe auf den ersten Blick“ und andere Mythen

Im Hintergrund sind sie zu sehen, die großen Rollenbilder der Romantik: Da sind die Figuren Jack und Rose aus „Titanic“, Carrie und Mr. Big aus „Sex and the City“ oder Charlie und Nick aus der Netflix-Serie „Heartstopper“. Sie leuchten auf den Screens der Hörsaalruine in Berlin an einem Abend im November 2024, als sich das Publikum zur dritten Ausgabe unserer Reihe „Wissen unplugged“ versammelt, um einem Expert:innen-Panel bei der Diskussion über das vermeintlich „schönste Gefühl der Welt“ zu lauschen – und selbst über die eigenen Liebes-Erfahrungen und -Mythen abzustimmen. „Wissen unplugged“ ist eine Veranstaltungsreihe von uns als ZEIT STIFTUNG BUCERIUS gemeinsam mit der Leibniz-Gemeinschaft in Kooperation mit ZEIT Campus und Deutschlandfunk Nova und wird von Holtzbrinck Berlin in der Berliner Hörsaalruine umgesetzt.

>> HIER können Sie die gesamte Diskussion ab dem 19. November ab 18 Uhr im Podcast „Hörsalon“ von Deutschlandfunk Nova hören! <<

Die drei zu Anfang genannten Serien- und Filmpaare stehen an diesem Abend symbolisch für drei Mythen und Fragen zu weit verbreiteten Bildern über die Liebe: Erstens: Gibt es Liebe auf den ersten Blick? Zweitens: Du musst nur den:die Richtige:n finden, dann wird alles gut. Und drittens: Gibt es eine Liebe des Lebens?

Um über diese Mythen zu diskutieren, begrüßen die Moderatorinnen Rahel Klein (Deutschlandfunk Nova) und Amna Franzke (ZEIT Campus) auf der Bühne drei Expert:innen, die sich in ganz unterschiedlicher Form mit sozialen Beziehungen und Liebeskonstrukten auseinandersetzen. Dr. Sanja Bauer Mamulovic ist Neurowissenschaftlerin am Leibniz-Institut für Neurobiologie (LIN) und Leiterin der Forschungsgruppe „Kognition & Emotion“. Dr. phil. Johanna L. Degen arbeitet als Sozialpsychologin und Wissenschaftlerin an der Europa-Universität Flensburg und ist Leiterin des Psychologischen Instituts für Subjektivitäts- und Praxisforschung sowie Ausbilderin bei Teach LOVE. Vervollständigt wird die Runde durch Nils Pickert, freier Journalist und Autor, u.a. von „Lebenskompliz*innen. Liebe auf Augenhöhe“ und „Prinzessinnenjungs. Wie wir unsere Söhne aus der Geschlechterfalle befreien“.

Statt direkt auf Romantik-Klischees und Liebes-Stereotypen einzugehen, diskutiert das Panel zu Beginn des Abends über Liebe anhand des Beispiels von Präriewühlmäusen. Die haben insofern mit Liebe zu tun, als dass die Forscherin Mamulovic die sozialen Beziehungen der Tiere erforscht. Denn: Präriewühlmäuse gehören zu den gerade mal drei Prozent der Säugetiere, die monogam leben. Sie haben Rezeptoren, die auch bei Menschen mit sozialen Beziehungen verbunden sind, wie beispielsweise Oxytocin – ein im Gehirn produzierter Botenstoff, auch Kuschelhormon genannt.

Liebe auf den ersten Blick – oder doch ein Blick in den Spiegel?

Kann man aber bei Mäusen wirklich von derselben Liebe sprechen wie bei Menschen? Sind hier die gleichen physischen Prozesse am Werk? Oder wirken bei Menschen vielmehr die sozialen, jahrhundertelang definierten Konzepte von Liebe? Eines davon ist die „Liebe auf den ersten Blick“ – ein Konstrukt, das immer häufiger infrage gestellt wird. Ob man tatsächlich auf Basis eines ersten Eindrucks eine Langzeitbeziehung aufbauen sollte, sei fraglich, sagt Sozialpsychologin Johanna L. Degen. „Es ist oft das Selbst, dass sich in der anderen Person, spiegelt‘. Wenn es von dem Stadium der Verliebtheit in die Langzeitbeziehung geht, dann findet man Unvereinbarkeiten. Dann geht es darum, wie wir damit umgehen.“ Der Autor Nils Pickert hingegen ist davon überzeugt, dass Liebe auf den ersten Blick existiert: „Den ersten Impuls, diese Anziehungskraft, diese scheinbar magischen Momente gibt es auf jeden Fall. (…) Die Liebe zeichnet eine bewusstere Wahrnehmung von Werten und Charaktereigenschaften aus.“ Pickert ist aber darin einig mit Degen, dass unsere Selbstwahrnehmung hier ebenso viel Einfluss nimmt wie das Gegenüber.

„Wir führen nicht die Beziehung, die wir führen könnten, sondern die wir glauben führen zu müssen“

Ob Liebe auf den ersten oder zweiten Blick – was ist, wenn sie gar nicht aufkommt? Wenn keine Person ins Leben tritt, um jene Blicke auszutauschen? Mit diesen Fragen ist der zweite Mythos des Abends herausgefordert: „Du musst nur den:die Richtige:n finden, dann ist alles gut“. Pickert und Degen diskutieren ausgiebig mit den Moderatorinnen Rahel Klein und Amna Franzke. Das Narrativ des Menschen, der ohne eine:n Partner:in unvollständig ist, sei veraltet, so Degen. Sie plädiert dafür, Krisen zu begrüßen und den Spiegel auch hier wieder auf das eigene Ich zu richten: „Was sagen die Triggermomente über mich aus [und nicht über meine Beziehung oder Partner:in]?“ „Wir führen nicht die Beziehung, die wir führen könnten, sondern die wir glauben führen zu müssen“, sagt Nils Pickert. Und das, obwohl sich Dating durch Apps, Multioptionalität und veränderte Beziehungsmodelle in neue Richtungen entwickelt hat. „Wir trauen Liebe und Sexualität oftmals zu wenig zu“, so Pickert. „Das [sexuelle] Begehren gibt es in größtmöglicher Nähe, bei Menschen, denen wir tief vertrauen. Es fühlt sich so gut an, daher macht man es nochmal.“ Es gäbe eine Diskrepanz zwischen den Vorstellungen (von Liebe) und dem Versuch, diese zu provozieren, so Johanna Degen.

Abstimmung im Publikum: Rund ein Drittel glauben nicht an „Liebe des Lebens“

Zu jedem Mythos stimmt das Publikum per Smartphone ab und kann Fragen an die Panelist:innen schicken. Die vielseitigen Blickwinkel auf Liebe und zeigen sich auch in der Diskussion über den dritten Mythos: „Gibt es eine Liebe des Lebens?“ 35 Prozent der Zuschauer:innen voten mit „Nein“.  Es könne sie geben, müsse es aber nicht, findet auch Nils Pickert. Das Konzept sei sogar ein Angriff des romantischen Ideals auf alle anderen Beziehungen: „Die ,Liebe des Lebens‘ ist eine Zumutung und wertet die kürzeren Beziehungen ab. (…) Viele Beziehungen scheitern und das tut weh. Aber eine Beziehung darf endlich sein. Wir neigen dazu, die Liebe und Beziehungen zu überfrachten.“ Liebe werde überschätzt, sagt auch Johanna L. Degen, zugleich aber auch unterschätzt. In der allgemeinen Melancholie und der gefühlten Sinnlosigkeit des Alltags sei sie oft überladen, aber auch nicht nur Teil eines Lifestyles, so die Sozialpsychologin: „Wir schauen immer stärker auf imaginäre Checklists, auf ,Red Flags‘. Aber beispielsweise beim Sex sollten wir nicht krampfhaft nach Gründen dafür oder dagegen suchen, man darf einfach intuitiv das tun, wonach einem ist. Wir vertrauen zu wenig auf unsere Intuition.“ „Es ist okay unterschiedlich zu sein“, antwortet auch Forscherin Sanja Bauer Mamulovic auf die Frage, ob wir wirklich lernen könnten, zu lieben: „Gehirne müssen nicht synchronisiert sein.“

Lasst die Liebe in Ruhe!

Um unterschiedliche Denkweisen geht es auch zum Ende der Diskussion: Innerhalb westweltlicher Kulturen werden besonders in den letzten Jahrzehnten immer mehr Stimmen laut, die für ein Verständnis von Liebe als größeres Konzept plädieren, jenseits der monogamen oder romantisch-sexuellen Zweier-Partner:innenschaft. Für ein solches Verständnis spricht sich auch der Autor Pickert aus: „Wir brauchen neue Narrative, die die Liebe erzählen nach einer Trennung, bei denen es gelingt, in Liebe zueinander bleiben, zum Beispiel bei getrennten Eltern. Wir sollten auch Freundschaften mehr in Liebeskategorien denken und es zum Beispiel als gesellschaftlich normal empfinden, wenn junge Menschen nicht umziehen wollen, weil die besten Freunde hier wohnen.“ Oder, so fasst er es kurz: „Wenn wir aufhören von der Liebe alles zu verlangen, dann gibt sie uns so viel mehr.“

Die gesamte Podcast-Folge können Sie ab dem 19. November ab 18 Uhr HIER bei Deutschlandfunk Nova anhören. Weitere Informationen zur Reihe „Wissen unplugged“ finden Sie hier.

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