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© Sophie Artus
„Erzählt unsere Geschichten“

Mit den Angriffen der Hamas auf Israel erleben Menschen Gewalt und Leid. Dr. Cédric Cohen Skalli vom Bucerius Institut in Haifa beschreibt die Lage. 

Das „Bucerius Institute for Research of Contemporary German History and Society“ an der Universität Haifa in Israel wurde 2001 durch die ZEIT STIFTUNG BUCERIUS gegründet. Seit über zwanzig Jahren unterstützt die ZEIT STIFTUNG BUCERIUS die Forschung vor Ort, die sich insbesondere mit der Erforschung der zeitgenössischen deutschen Geschichte und Gesellschaft befasst. In Haifa lernen mehr als in den anderen Universitäten Israels arabische und jüdische Student:innen gemeinsam. Mit den terroristischen Angriffen der islamistischen Hamas erleben Menschen nun unvorstellbares Leid und grausame Gewalt. Mit Dr. Cedric Cohen Skalli, Direktor des Institutes, konnten wir über die aktuelle Situation in Haifa sprechen. Er bittet: „Erzählt unsere Geschichten!" und wünscht sich für die Student:innen und Mitarbeiter:innen in Haifa Gesprächspartner:innen in Deutschland, um das Erlebte besser zu verarbeiten. Das Interview fand am 11. Oktober 2023 telefonisch statt.

Herr Cohen Skalli, wie geht es Ihnen und Ihren Kolleg:innen?
Wie alle Israelis stehen wir unter Schock – einer der größten Schocks unserer Geschichte. Wir fragen uns: Wie ist es möglich, dass so etwas passiert ist? Damit meine ich einerseits die unfassbaren Taten der Hamas. Aber auch die Frage, wie es sein kann, dass die Regierung und die Armee so schlecht auf den Angriff vorbereitet waren. Das ist sehr beunruhigend. Wir wissen nicht mehr, ob wir in diesem Land sicher sind oder nicht.

Wie macht sich der Kriegszustand in Haifa bemerkbar? Die Stadt liegt weit entfernt vom Gaza-Streifen, aber umso näher an der libanesischen Grenze.
Haifa war bislang nicht direkt in die Kriegshandlungen involviert. Ich hoffe sehr, dass es dabei bleibt und es keinen zweiten Krieg an der Grenze zum Libanon geben wird. Trotzdem ist der Krieg auch hier sehr präsent. Die ganze Zeit hören wir Flugzeuge und Drohnen, auch Schüsse. Und natürlich hat jeder, der hier lebt, Kinder oder Freunde beim Militär. Jeder kennt jemanden, der bei den Angriffen getötet, verletzt oder entführt wurde. Ein Kollege meiner Frau war unter den Besuchern des Musikfestivals im Süden. Er wurde erschossen... Auch wenn Haifa zurzeit relativ sicher ist: Moralisch ist jeder getroffen.

Von Alltag kann in dieser Situation wohl keine Rede sein: Wie können wir uns das universitäre Leben in Haifa vorstellen?
Die Universität ist komplett geschlossen, die Bibliothek, unser Institut, alles. Wir arbeiten so gut es geht von zuhause. Vor allem aber versuche ich, mit unseren jungen Studenten und Forschern aus Deutschland in Kontakt zu bleiben. Sie haben Angst und wissen nicht, was sie tun sollen: Hier bleiben oder nach Deutschland zurückkehren? Es ist absolut verständlich, dass sich die meisten in dieser Situation nicht auf ihre Arbeit konzentrieren können.

Was diese Tage aber auch prägt, und das ist mir wichtig zu erwähnen, ist die Unterstützung aus dem Ausland. Ob aus Deutschland, Frankreich, Italien oder den USA: All unsere Kollegen rufen an und sprechen uns ihr Mitgefühl aus. Das rührt mich sehr.

Über die Anteilnahme und das Mitgefühl hinaus: Was können Privatpersonen und zivilgesellschaftliche Organisationen aus dem Ausland jetzt tun?
Wenn meine Freunde und Bekannten aus dem Ausland diese Frage stellen, bitte ich sie meist gar nicht um Hilfe für die Israelis, sondern um einen Anruf bei unseren deutschen Mitarbeitern und Studenten. Sie sind allein hier und mitten in einem Krieg gelandet. Und ihre Familien zuhause in Deutschland wollen sie meist nicht beunruhigen. Es hilft ihnen, wenn sie mit jemand Drittem über ihre Situation, über ihre Gefühle sprechen können. Falls es jemanden gibt, der sich das vorstellen kann: Es gibt sehr viele deutsche Studenten hier in Haifa und ich vermittle gerne einen Kontakt.
Das Zweite, was man tun kann: Erzählen Sie unsere Geschichten. Sprechen Sie über das, was uns Menschen hier in Israel passiert. Der israelische Staat ist weit davon entfernt, perfekt zu sein, aber wir sind auch Menschen.

Der aktuelle Krieg ist ohne Frage ein dramatischer Tiefpunkt im israelisch-palästinensischen Konflikt. Gibt es trotzdem irgendetwas, das Ihnen Hoffnung macht?
Viel Hoffnung ist natürlich nicht da. Wir brauchen Zeit, um unsere Wunden zu heilen und das Land langsam wieder aufzubauen. Was ich mir aber wünsche, ist, dass alle Seiten aus ihren Fehlern lernen. Hier in Israel brauchen wir wieder eine Regierung, die sich um die Menschen kümmert, anstatt die Demokratie abzubauen. Und wir müssen uns von einer langjährigen Politik verabschieden, die auf Deals mit der Hamas setzt, anstatt eine große politische Lösung des palästinensisch-israelischen Konflikts anzustreben.

Auf der anderen Seite hoffe ich, dass in Palästina und der gesamten arabischen Welt verstanden wird, dass die Hamas Teil des Problems ist, nicht Teil der Lösung.

Interview: Ebba Schröder

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