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„Borders in Focus“: Berichte von der Ostgrenze Polens

„Die Menschen werden wie Waren behandelt“, sagt Piotr Czaban. Der Journalist und Aktivist spricht im Interview mit Karine Asatryan auf der Platform A1Plus über die Situation von flüchtenden Menschen an der polnisch-belarusischen Außengrenze. Asatryan führte das Gespräch als eine der Teilnehmer:innen, die im Rahmen des Seminars „Borders In Focus“ im Juni 2023 an die Ostgrenze Polens gereist sind. Hier kamen Stipendiat:innen des Programms „Beyond Borders“ der ZEIT STIFTUNG BUCERIUS mit Journalist:innen zusammen, deren Arbeitsschwerpunkt im Bereich Migration liegt. Ziel des Seminars war es, einen differenzierten Eindruck der derzeitigen Migrationssituation in Polen zu gewinnen und Wege aufzuzeigen, wie dieser auch öffentlich vermittelt werden kann. In der Auseinandersetzung vor Ort hilft die Kombination journalistischer und wissenschaftlicher Perspektiven aus der Grenzforschung, ein umfassendes Bild der Realität zu zeichnen. Denn: Die Lage im Grenzgebiet zwischen Polen und Belarus ist aus dem Fokus der internationalen Berichterstattung weitgehend verschwunden.

Dabei sind die humanitären Zustände vor Ort mehr als prekär. Laut der „Grupa Granica“ („Gruppe Grenze“), einem Zusammenschluss polnischer Nichtregierungsorganisationen, sind seit August 2021 mindestens 47 Menschen an der Grenze gestorben, mehrere Hundert gelten als vermisst. Nachdem das belarusische Regime einige tausend Migrant:innen und Asylsuchende an die polnisch-belarusische Grenze gebracht hatte, um Polen und die EU unter Druck zu setzen, verhängte die polnische Regierung einen mehrmonatigen Ausnahmezustand und ließ einen insgesamt 186 Kilometer langen, fünf Meter hohen Grenzzaun mit Stacheldraht errichten. Der Zaun wurde im Juni 2022 fertiggestellt. Zu diesem Zeitpunkt hatten nur wenige Kilometer weiter südlich bereits mehrere Millionen Ukrainer:innen die Grenze zu Polen überquert, um in der EU vor dem russischen Überfall Schutz zu suchen.

PiS: Referendum mit migrationspolitischen Fragen

Auch auf politischer Ebene spitzt sich die Lage zu: Inzwischen hat die polnische Regierung ein umstrittenes Referendum angekündigt, das am 15. Oktober abgehalten werden soll und in zwei Fragen die Situation an der Ostgrenze des Landes und auch die europäische Migrationspolitik in den Fokus stellt: „Unterstützen Sie die Beseitigung der Barriere an der Grenze zwischen der Republik Polen und der Republik Belarus?“ und: „Unterstützen Sie die Aufnahme Tausender illegaler Einwanderer aus dem Nahen Osten und Afrika nach dem von der europäischen Bürokratie erzwungenen Relocation-Verfahren?“ Die Regierungspartei PiS (dt. „Recht und Gerechtigkeit“) versucht damit, Wähler:innen zu mobilisieren. Anfang August verdoppelte die polnische Regierung die Zahl der Grenzschützer:innen und kündigte eine weitere Verstärkung der militärischen Präsenz im Grenzgebiet an. Währenddessen versuchen in der Sommerzeit mehr Migrant:innen aus dem Nahen Osten und Afrika in die EU zu kommen. Auch die Angst vor der russischen Wagner-Gruppe in Belarus sorgt derzeit für weitere Verunsicherung.

In Polen verdichten sich damit Komplexität, Widersprüchlichkeit und Grauen aktueller europäischer Migrationspolitik: Völlig unterschiedliche Migrationsregime existieren unmittelbar nebeneinander, nationale und supranationale politische Ebenen beanspruchen eine Regelungskompetenz, das diktatorische Regime im Nachbarstaat Belarus begreift Migration als geopolitisches Instrument, die polnische Regierung schürt Feindbilder und macht sie zum Kern der eigenen politischen Kampagne. Währenddessen spielt sich eine humanitäre Katastrophe ab, in der Asylsuchende völkerrechtswidrig an der Einreise gehindert und vermisst werden oder in der Grenzregion sterben.

Raum für Realität und komplexe Auseinandersetzung

Migration ist eines der bestimmenden Themen des 21. Jahrhunderts. Die europäischen Demokratien sind deshalb darauf angewiesen, dass in ihnen ein öffentlicher Diskurs besteht, der mit der Komplexität und Ambivalenzen der Realitäten differenziert umgehen kann. Dafür braucht es mehr Raum für einen qualitativ hochwertigen Journalismus, der neben einer präzisen Berichterstattung auch die Strukturmerkmale öffentlicher Auseinandersetzungen über Migration reflektiert.

Mit dem Promotionsprogramm „Beyond Borders“ fördert die ZEIT STIFTUNG BUCERIUS seit dem Jahr 2020 sozial- und geisteswissenschaftliche Auseinandersetzungen mit Grenzen und gesellschaftlichen Grenzziehungen.

Während der Seminar-Reise „Borders In Focus“ verbrachten die Teilnehmenden zwei Tage in Warschau, an denen sie Gespräche mit Wissenschaftler:innen, Journalist:innen, und Kulturschaffenden führten und die europäische Grenzschutzagentur Frontex besuchten. Außerdem umfasste das Seminar eine Reise entlang der polnischen Ostgrenze zu Belarus und der Ukraine. Vor Ort konnten die Teilnehmenden mit Aktivist:innen, sowie Funktionären der Städte Michałowo und Przemyśl sprechen. Eindrückliche Erfahrungen beschreiben der bereits eingangs erwähnte Reisebericht und die Interviews von Karine Asatryan sowie die Gespräche und der Text aus Michałowo und Przemysl von Claudia Ciobanu.

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